„Die Zeit des Nationalsozialismus war gewiss der dunkelste Punkt der Verfolgung und Ermordung von Menschen, doch es wäre fahrlässig, Antiziganismus, Antisemitismus oder andere Formen von Menschenfeindlichkeit als ein in sich geschlossenes Kapitel dieser Zeit zu sehen“. Das sagte Innenminister Reinhold Gall am Samstag, 2. August 2014, im Stuttgarter Innenministerium bei der Gedenkfeier und Ausstellungseröffnung zum 70. Jahrestag der Ermordung von fast 3.000 Sinti und Roma am 2. August 1944 bei der Auflösung des „Zigeunerlagers B II e“ in Auschwitz-Birkenau. Dafür sei die Historie der Missetaten zu lang und, wie die menschenverachtende Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds zeige, auch gegenwärtig.
Als Innenminister des Landes Baden-Württemberg, er spreche hier auch für Polizei und Innenverwaltung, müsse man im Erinnern schmerzlich erfahren, wohin ein Mitwirken am Unrecht führe. Denn es sei der Heimerlass des württembergischen Innenministers gewesen, der am 7. November 1938 Kinder als „zigeunerisch oder zigeunerähnlich“ eingestuft und zur Unterbringung in Heimen verurteilt habe. Denn es seien die Verwaltung und die Kommunen gewesen, die den Erlass reibungslos umgesetzt hätten, und es seien Polizeibeamte gewesen, die die Erfassung der Sinti und Roma landesweit vollzogen hätten. Kriminalbeamte aus Stuttgart seien nach Mulfingen gekommen, um die Kinder erkennungsdienstlich zu erfassen. „Es waren Polizeibeamte, die die Kinder am 9. und 12. Mai 1944 unter dem Vorwand, es gehe auf einen schönen Ausflug, in das Vernichtungslager Auschwitz brachten. Die kleineren Kinder vertrauten den „Schutzmännern“ und freuten sich“, beklagte Innenminister Gall.
Erinnern bedeute für die Opfer und Nachfahren Schmerz und Leid. Für das Innenministerium und die Polizei bedeute Erinnern, sich bewusst zu werden, dass die nationalsozialistischen Verbrechen ohne die Mitwirkung von Polizei und Verwaltung nicht möglich gewesen wären. „Diese Wahrheit beschämt und entsetzt mich, auch 70 Jahre danach. Mich beschämt und entsetzt das Leid der Menschen, aber auch die Akribie, mit der Behörden die Verbrechen vorantrieben und die Tatsache, dass sich so viele, zu viele, hinter Befehlen versteckten“, sagte Gall. „Es war die Mitwirkung am Unrecht, die in den Massenmord führte.“
Wenn Geschichte Sinn machen solle, dann den, aus ihr zu lernen und Verantwortung zu übernehmen. Der erste Schritt hierzu sei, sich der Wahrheit zu stellen. Zu dieser Wahrheit gehöre, dass der Völkermord an den Sinti und Roma viel zu lange nicht als solcher öffentlich benannt und anerkannt worden sei. Wahr sei auch, dass sich Behörden bislang zu wenig mit den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte befasst hätten. „Das wollte das Innenministerium ändern und die Vergangenheit aufarbeiten“, hob der Innenminister hervor.
Hierzu sei das aktuelle Forschungsprojekt der Landesregierung zur „Geschichte der Landesministerien Baden-Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“ mit angestoßen worden. „Und eben weil Geschichte nicht nur lehrt, sondern uns auch zur Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft verpflichtet, sind wir einen weiteren Schritt gegangen“, merkte Gall an. Diese Woche sei die Absichtserklärung für eine Kooperation der Polizei mit dem Haus der Geschichte und dem künftigen Geschichtsort „Hotel Silber“ unterzeichnet worden
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Menschliches Miteinander könne nur gelingen, wenn man Vorurteilen mit Wissen begegne, wenn man sich selbst immer wieder kritisch prüfe und wachsam bleibe gegenüber jeder Form von Menschenfeindlichkeit. Gedenktage wie der 2. August führten den Wahnsinn einer Ideologie vor Augen, die den Wert des einzelnen Menschen negiert habe. Diese lasse die Bedeutung dessen spüren, was kein Gesetz und kein Erlass regeln könne: Menschlichkeit und Mitgefühl.
„In diesem Mitgefühl verneige ich mich vor den Opfern des Nationalsozialismus und vor den fast 3.000 Sinti und Roma, die heute vor 70 Jahren in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden“, schloss Innenminister Gall seine Rede.