„Wir wollen die Zahl der Toten und Verletzten im Verkehr deutlich reduzieren. Im Jahr 2020 sollen als wesentlicher Schritt hin zu einer ‚Vision Zero‘ 40 Prozent weniger Menschen auf Baden-Württembergs Straßen zu Tode kommen als 2010. Dies entspricht auch den Zielen der Bundesregierung“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der Vorstellung des ersten umfassenden Verkehrssicherheitskonzeptes des Landes Baden-Württemberg nach der Verabschiedung durch den Ministerrat.
Im Auftrag des Ministeriums für Verkehr und Infrastruktur und des Innenministeriums haben Fachleute die Unfalllage und bisherige Maßnahmen analysiert sowie Verbesserungsvorschläge erarbeitet. „Die Defizite der Vergangenheit werden wir konsequent beseitigen, indem wir nicht mehr Einzelaktionen betreiben, sondern alle Handlungsfelder miteinander verzahnen“, betonten Verkehrsminister Winfried Hermann und Innenminister Reinhold Gall. Es könne nicht hingenommen werden, dass jedes Jahr die Anzahl der Verkehrstoten (2012: 471) der Einwohnerzahl eines kleinen Dorfes entspreche. „Die Dimension des Verkehrsunfallgeschehens ist noch nicht vollständig im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen. Jeder tödliche Unfall reißt einen Menschen plötzlich aus dem Leben. Er hinterlässt eine unersetzliche Lücke in der Familie, im Freundeskreis und häufig auch im Berufsleben“, ergänzte Innenminister Gall. Auch sei vielen nicht bewusst, dass der jährliche volkswirtschaftliche Schaden durch Unfälle in Baden-Württemberg fast drei Milliarden Euro betrage.
Um dies zu vermeiden, integriert das Verkehrssicherheitskonzept bauliche Verbesserungen an Straßen, Kontrollen und Prävention in eine Gesamtstrategie. „Wir setzen bei den Menschen an – indem wir etwa gezielt auf besonders gefährdete Zielgruppen wie Senioren zugehen. Wir appellieren an die Hersteller, die Sicherheitstechnik von Fahrzeugen zügig weiter zu entwickeln und unterstützen entsprechende Vorgaben. Und wir optimieren die Infrastruktur mit dem Ziel fehlerverzeihender Straßen“, so Minister Hermann.
Neues Verkehrssicherheitsscreening
Ein wichtiger Baustein für eine Entschärfung von Brennpunkten ist das neue Verkehrssicherheitsscreening. Erstmals hat das Verkehrsministerium alle beim Land verfügbaren Daten im Zusammenhang mit Unfällen auf einer Plattform zusammengefasst. „Damit können wir die Straßen im Land bis auf die Ebene von 100-Meter-Abschnitten auf Unfallschwerpunkte hin analysieren. In dieser Detailtiefe durchleuchtet kein anderes Bundesland sein Netz“, erklärte Minister Winfried Hermann. Auf Basis von Unfalldaten, verknüpft mit Verkehrsdaten sowie Informationen zum Fahrbahnzustand, erstellt das Ministerium „Verkehrssicherheitssteckbriefe“. Die Verkehrsdaten umfassen dabei neben Angaben zur Verkehrsmenge auch Geschwindigkeitsinformationen. Damit wird ein Ranking der Strecken nach verschiedenen Kriterien möglich – als Basis für eine Priorisierung, die die Mittel dort einsetzt, wo der Bedarf am dringendsten ist. „Wir werden uns sehr genau anschauen, wo die besonders kritischen Punkte liegen und wie wir die Sicherheit dort verbessern können“, erklärte Verkehrsminister Winfried Hermann. Die Landesregierung habe bereits die Mittel für Erhalt und Sanierung von Landesstraßen auf 100 Millionen Euro verdoppelt und damit die Voraussetzung geschaffen, um zügig auf neue Erkenntnisse reagieren zu können. In Frage kommen etwa der Einsatz von Rüttelstreifen, die Verbesserung von Fahrbahnmarkierungen, die Beseitigung von Hindernissen im Seitenraum oder die Modernisierung der Leitplanken mit Unterfahrschutz. Die Analyse des Netzes erfolgt jährlich für alle Verkehrsteilnehmerarten – für die erste Netzanalyse wurde ein besonderer Fokus auf die Identifizierung von Gefahrenstellen für MotorradfahrerInnen gelegt.
Zur Vereinfachung der Arbeit im Land soll das Programm zur Durchführung des Verkehrssicherheitsscreenings noch in diesem Jahr den 150 im Land tätigen Unfallkommissionen zur Verfügung gestellt werden. Damit arbeiten die Straßenbauverwaltung, die lokalen Straßenverkehrsbehörden und die Polizei auf dem gleichen Stand. „So verbessern wir die Verkehrssicherheit auch dort, wo wir keine direkten Eingriffsmöglichkeiten haben. Dadurch, dass die Behörden vor Ort unsere Analyse nutzen, können etwa auch Kreisstraßen unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit effektiv saniert werden“, so Hermann.
Mehr Verkehrsüberwachung vorgesehen
„Verkehrssicherheitsarbeit ist auch eine Kernaufgabe der Polizei. Deutlich mehr Menschen verlieren ihr Leben im Straßenverkehr als durch Kriminalität“, stellte Innenminister Reinhold Gall fest. Im Gegensatz zur Vorgängerregierung entstehe jetzt Verkehrssicherheit aus einem Guss. Durch das Verkehrssicherheitskonzept und die bevorstehende Umsetzung der Polizeistrukturreform schaffe die Landesregierung dafür gute Voraussetzungen.
Ein Baustein für den Erfolg der Verkehrssicherheitsarbeit sei nachweislich eine konsequente Verkehrsüberwachung. „Wir wollen und müssen mehr kontrollieren, gerade bei den Verkehrsverstößen, die unfallträchtig sind oder andere Verkehrsteilnehmer oder Anwohner zu Recht aufregen. Das wird vor allem durch die neuen Verkehrspolizeidirektionen in den zwölf Präsidien gewährleistet“, sagte der Innenminister. Weil fast jeder zweite tödliche Verkehrsunfall im Land auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen sei, würden ab Januar 2014 neue Messgruppen bei den Verkehrspolizeidirektionen eingerichtet.
Bürger können „Aufregerstellen“ benennen
Gall kündigte aber auch mehr Transparenz bei der Verkehrsüberwachung an. Baden-Württemberg werde am bundesweiten „24-Stunden Blitzmarathon“ voraussichtlich am 10./11. Oktober teilnehmen. „Ich möchte jetzt schon ankündigen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auffordern werden, uns ihre ‚Aufregerstellen‘ zu nennen, wo zu schnell gefahren wird“, sagte Gall. Die Polizei und die Kommunen würden dann insbesondere an diesen Stellen messen. Ziel sei es auch, den Bürgern nicht den Eindruck von Schikane zu vermitteln. Mehr Sicherheit auf den Straßen bringe mehr Lebensqualität. Innenminister Gall weiter: „Verkehrssünder sind keine Opfer, sondern Täter. Angesichts der Dimension des Unfallgeschehens müssen die gleichen Grundsätze wie bei der Kriminalitätsbekämpfung gelten. Es gibt ja auch nicht ein bisschen Ladendiebstahl.“
Fahrkultur der Fairness
Insgesamt setze das Verkehrssicherheitskonzept jedoch primär auf mehr Prävention. Viele präventive Maßnahmen seien jetzt festgeschrieben worden. Darauf habe der Bürger nun einen Anspruch (z.B. Radfahrausbildung in allen vierten Klassen der Grundschule), stellten beide Minister heraus. „Mehr Sicherheit entsteht vor allem im Kopf jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers. Eine Fahrkultur der Fairness wird viele Risiken minimieren“, sagte Verkehrsminister Hermann.
Senioren sollen länger mobil bleiben
Ein besonderes Augenmerk werde bei der Umsetzung des Verkehrssicherheitskonzepts sofort auf die älteren Verkehrsteilnehmer gerichtet – etwa durch das Angebot von Fahrsicherheitstrainings. „Unter der Federführung des Innenministeriums wird noch im Juli eine interministerielle Arbeitsgruppe - zusammen mit vielen Verbänden und Organisationen, wie zum Beispiel dem Landesseniorenrat - das erste Mal tagen. Wir wollen das Thema offensiv und zügig angehen“, unterstrich der Innenminister. Ziel sei es, Senioren angstfrei möglichst lange die Mobilität zu erhalten. Dies gelte gerade auch für den ländlichen Raum.
Das Verkehrssicherheitskonzept umfasst insgesamt knapp 90 Einzelmaßnahmen. Neben den bereits geschilderten Initiativen sind unter anderem geplant:
- Mehr Verkehrsbeeinflussungsanlagen, Ausweitung der Verkehrsinformationen
- Markierungen und Beschilderungen zur Vermeidung von Falschfahrten
- Mehr Anhaltekontrollen, um Aufklärungsgespräche mit den Betroffenen zu führen
- Zielgruppenorientierte Maßnahmen für Senioren, Kinder (z.B. Schul- und Radschulpläne, Verkehrssicherheitstage usw.) und Jugendliche, RadfahrerInnen, FußgängerInnen, MotorradfahrerInnen und den gewerblichen Güter- und Personenverkehr.